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Eine Rekonstruktion der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags

Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags ist bis Samstag, 9:30 Uhr, unterbrochen. Die AfD hat auf der parlamentarischen Bühne mit ihrem Alterspräsidenten Jürgen Treutler ein Stück aufgeführt, das offenbart, welches Verständnis sie von demokratischen Institutionen hat. Die anderen Fraktionen haben geschlossen dagegengehalten. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich dieses Stück am Samstag fortsetzt.

Prolog

Auf Einladung der alten Landtagspräsidentin Birgit Pommer trat gestern der frisch gewählte achte Thüringer Landtag in Erfurt zum ersten Mal zusammen. Ziel einer ersten Sitzung ist es, dass der Landtag sich so organisiert, dass er voll arbeitsfähig ist. Dazu muss er u.a. eine Landtagspräsidentin zu seinem Vorsitz wählen (Artwork. 57 Abs. 1 ThürVerf).

Die AfD hatte bereits im Vorfeld das Amt der Landtagspräsidentin unbedingt für sich in Anspruch genommen und angekündigt, dazu eine Auslegungsunsicherheit in der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (ThürGOLT) auszunutzen. Am Vorabend hatte Björn Höcke in einem Beitrag auf X, vormals Twitter, alles andere als die erfolgreiche Wahl der AfD-Kandidatin Muhsal zur Landtagspräsidentin einen „Regel- und Tabubruch“ bezeichnet und die „Kartellparteien“ angegriffen. Letztlich sollte sich Höckes „Demokratiedämmerungs“-Tweet als unverhüllte Vordeutung des Auftretens seiner eigenen Fraktion am Folgetag herausstellen.

Die anderen Fraktionen wollten möglichst früh eine Änderung der Geschäftsordnung vornehmen, um die Auslegungsunsicherheit (dazu mehr hier und hier, S. 16) rund um die Wahl der Landtagspräsidentin kurzfristig zu klären – was die CDU noch in der letzten Legislaturperiode blockiert und stattdessen auf die Zusage der AfD vertraut hatte. Nun ist es weder zum einen noch zum anderen gekommen: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik entgleiste die konstituierende Sitzung eines Parlamentes.1) Was ist passiert?

Erster Akt: Die erzwungene Eröffnungsrede

Um 12:01 Uhr klingelte Jürgen Treutler zur konstituierenden Sitzung und begrüßte die Anwesenden. Der Alterspräsident der letzten Legislaturperiode, der ehemalige AfD Politiker Karlheinz Frosch, hatte nach bisherigem parlamentarischen Brauch2) vor seiner Eröffnungsrede noch gefragt, ob der vorläufigen Tagesordnung widersprochen werde. Treutler eröffnete den übrigen Fraktionen diese Gelegenheit nicht, sondern setzte nach Feststellung seiner Alterspräsidentschaft und der Vorstellung der neuen Fraktionen zur Rede an. Der Parlamentarische Geschäftsführer (PGF) der CDU, Andreas Bühl, der im Verlauf des Nachmittags zum Antagonisten Treutlers avancierte, ging mit zwei erhobenen Händen, die eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung (GO) anzeigen, dazwischen. Er stellte jedoch nicht den Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung, den CDU und BSW schon in der Tagesordnung (TO) vorgesehen hatten, sondern zunächst auf Feststellung der Beschlussfähigkeit und berief sich dazu auf § 40 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags.3) Die Beschlussfähigkeit wird zwar durch Artwork. 61 Abs. 1 der Landesverfassung vermutet und auch ihre Feststellung struggle in der vorläufigen Tagesordnung – in Einklang mit der alten Geschäftsordnung – später vorgesehen. Doch die CDU wollte das Feld nicht der AfD überlassen und das Risiko eingehen, dass diese durch ihren Alterspräsidenten vollendete Tatsachen schafft. Denn dieser hätte dem Parlament wohl die Beschluss- und damit die Handlungsfähigkeit so lange abgesprochen, bis er die zu behandelnde Tagesordnung in ihrer ursprünglichen Type – unter Außerachtlassung der form- und fristgerechten Neufassung mit dem Antrag von CDU und BSW – festgelegt hätte.

Treutler wehrte ab, Bühl ging unter Berufung auf § 31 Abs. 2 ThürGOLT dazwischen, gemäß dem die Fraktionsvorsitzenden und ihre Vertreter außerhalb von Reden jederzeit sofort das Wort zu erteilen ist und forderte gemäß § 121 Abs. 2 ThürGOLT eine Abstimmung des Parlaments über Treutlers Entscheidung. Treutler tat daraufhin ein erstes Mal, was zu seiner Linie des Nachmittags werden sollte: Er unterbrach die Sitzung und blickte hilfesuchend zu Torben Braga, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der AfD und Regisseur der heutigen Aufführung. In einer ersten von vielen Runden vor dem Präsidiumspult diskutierten die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen, Treutler und Landtagsdirektor Jörg Hopfe. Die AfD setzte sich durch, Treutler durfte zunächst seine Eröffnungsrede halten. Ausweislich späterer Äußerung von Bühl sollte er danach die Namen der Abgeordneten aufrufen, vorläufige Schriftführer bestimmen und die Beschlussfähigkeit feststellen – so der Kompromiss.

Treutler nutzte die Gelegenheit der Eröffnungsrede, um eine argumentative Foundation für die nächsten vier Stunden Institutionenmissbrauch zu schaffen. Er spannte einen Bogen von der hohen Wahlbeteiligung zum vermeintlichen Wählerwillen und der „medial-politischen Elite, die diesen verachte“. Den Wählerwillen setzte er natürlich selbst: Er sei „nüchtern zu betrachten“ und „am 1. September sehr deutlich geworden“. Treutler versteht ihn „als Auftrag, der Untergrabung der freiheitlich-politischen [sic] Kultur entgegenzutreten.“ Gestand er zunächst noch zu, dass das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion für das Amt der Landtagspräsidentin gegen das freie Mandat keine Pflicht zur Wahl begründen kann, so verstoße es doch gegen „seltenes verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht“ (unter Bezugnahme auf Joachim Linck4)), und mehr noch: gegen den „Geist der parlamentarischen Demokratie“. Besonders charakteristisch für den weiteren Verlauf der Sitzung: „Die Wähler in Thüringen erwarten, dass ihr Wille, den sie in der Wahl zum Ausdruck gebracht haben, berücksichtigt wird. Sie erwarten, dass keine Winkelzüge gespielt werden, die am Ende die Demokratie ruinieren.“

Treutlers Rede ist ein Schulbeispiel des autoritär-populistischen Narrativs: Die zeremonielle Eröffnungsrede des Alterspräsidenten, die grundsätzlich überparteilich und impartial auf die neue Legislatur einstimmt (vgl. letzte Eröffnungsreden Frosch, Holzapfel), missbrauchte er, um die Place der AfD als stärkste Kraft im Landtag (32 von 88 Sitzen) zu einem Herrschaftsanspruch zu verdrehen. Die selbst gesetzten Behauptungen begründete er wechselnd mit dem vermeintlichen „Willen des Wahlvolkes“ und dünnen rechtlichen Argumenten. So verschaffte er seiner Fraktion nicht nur Deckung für das weitere Vorgehen, sondern ein Fundament, das sich auf den sozialen Medien vervielfältigen und verselbständigen kann.

Zweiter Akt: Eskalation

Die nächsten Unterbrechungen folgten, als Treutler mit diesen Ausführungen zum Ende kam („Vielen Dank.“) und sich im Anschluss „einige Anmerkungen zur Tagesordnung“ erlauben wollte. Bühl ging dazwischen und berief sich auf die eben vereinbarte Absprache der Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen: Treutler unterbrach die Sitzung für quick eine Stunde, um sie nach seiner Rückkehr mit seiner Rede fortzusetzen. Mit diesem Taschenspielertrick spielte er Bühl § 31 Abs. 2 der ThürGOLT zurück, um nicht in seiner vermeintlichen Rede unterbrochen zu werden – auch wenn er schon längst zur Tagesordnung ausführte. Soweit zum Geiste der parlamentarischen Demokratie: Bühl ging wieder dazwischen und berief sich auf die Abmachung. Erstmals griff er den Alterspräsidenten direkt an, berief sich auf das Selbstverwaltungsrecht des Parlaments und prangerte eine Verletzung der Rechte der Abgeordneten an. Bühl legte spätestens jetzt die Konfliktlinie offen zutage: Die AfD, mit Alterspräsident Treutler und Braga als Einflüsterer gegen Bühl und die Mehrheit des Parlaments mit ihrer Geschäftsordnungsautonomie im Rücken. Treutler? Unterbrach.

Dritter Akt: Treutler, wie er will

Treutler läutete nach erneuten 40 Minuten das Glöckchen. Er berief sich auf die Tagesordnung und Geschäftsordnung: „Davon kann nicht abgewichen werden.“ Nach dem Thüringer Geschäftsordnungsgesetz (ThürGOG) gelte die bisherige Geschäftsordnung fort, bis sich der Landtag eine neue Geschäftsordnung gegeben habe. Auch wenn bereits diese Fortgeltung umstritten ist (dazu Michl, siehe auch unten), schloss Treutler direkt an: „Dazu [zu einer GO-Änderung] muss der Landtag erst konstituiert sein.“ Bühl ging dazwischen, Treutler verschärfte: „Ich entziehe Ihnen das Wort!“ Ob dem Alterspräsidenten in gleichem Maße wie der Landtagspräsidentin zur Sitzungsleitung Ordnungsinstrumente zur Verfügung stehen, ist bislang kaum diskutiert. In § 1 ThürGOLT sind seine Kompetenzen auf die Sitzungsleitung beschränkt, die für die Landtagspräsidentin in Artwork. 57 Abs. 2 S. 3 ThürVerf und damit gesondert von der Ordnungsgewalt in Artwork. 57 Abs. 3 S. 2 ThürVerf geregelt ist. Auch nach der rein zeremoniellen Funktion des Alterspräsidenten – die Treutler später selbst noch stark machte – stehen ihm solch einschneidende Eingriffe in das Abgeordnetenrecht nicht zu.

Treutler wies die Landtagsverwaltung im Hintergrund an, Bühl das Mikrofon abzustellen. Hopfe ignorierte. Bühl sprach weiter, Hopfe sprach Treutler von der Seite ins Gewissen. Treutler ermahnte Bühl zur Ruhe und bestand darauf, seine „Rede“ zu Ende zu führen. Er erteilte Bühl einen ersten und einen zweiten Ordnungsruf. Bühl warf ihm nun „Machtergreifung“ vor. Auch die anderen Fraktionen widersprachen lautstark. Treutler unterbrach.

Vierter Akt: Treutlers Demokratiekunde

Treutler setzte fort, indem er dem versammelten Parlament weitere Ordnungsrufe androhte. Unter lautem Klopfen des Landtags ging nun auch die PGF der Linken, Katja Mitteldorf, dazwischen. Treutler wiederholte seine Rechtsauffassung zur Konstituierung und berief sich auf den Kommentar zur Landesverfassung, denn auch Landtagsdirektor Hopfe mit herausgibt. Dabei gab Treutler zwar die Voraussetzungen der Konstituierung wieder, äußerte jedoch nichts zur maßgeblichen Frage der Möglichkeit vorheriger Tagesordnungspunkte. Er legte aber nach, dass die Einladungsgewalt der bisherigen Landtagspräsidentin Pommer nur Termin und Ort des Zusammentritts bestimmt, nicht aber die Aufstellung einer Tagesordnung. Das komme nach § 21 ThürGOLT allein dem Ältestenrat zu, den es aber noch nicht gebe. Kein Wort mehr davon, dass er sich einige Unterbrechungen zuvor noch selbst auf die Tagesordnung bezogen hatte. Der ehemaligen Landtagspräsidentin mangele es an demokratischer Legitimation. Die von Pommer aufgestellte Tagesordnung sei vielmehr „willkürlich“, weil sie die Abgeordneten vor vollendete Tatsachen stelle. Tatsächlich kann man es als Bruch des Diskontinuitätsgrundsatzes werten, dass die alte Landtagspräsidentin für den neuen Landtag die vorläufige Tagesordnung aufstellt. Allerdings geht die überwiegende Auffassung davon aus, dass dies mit Blick auf parlamentarischen Brauch und Praktikabilitätserwägungen hinzunehmen sei. Immerhin ist dem Landtag die Möglichkeit gegeben, der vorläufigen Tagesordnung zu widersprechen und sich eine neue Tagesordnung zu geben; nur verweigerte Treutler dies. Im Gegenzug erklärte er die Geschäftsordnung für zunächst unveränderbar – im Wortgefecht gingen die Fraktionen jetzt vehementer dazwischen. Treutler verwies wieder auf seine Rede und fuhr – nächste Kehrtwende – mit Erläuterungen über die beschränkte Kompetenz des Alterspräsidenten fort. Zudem konstruierte er ein Argument aus der Reihenfolge der Absätze in Artwork. 57 ThürVerf, wonach erst die Wahl des Landtagspräsidenten und erst dann die Geschäftsordnung folge. Die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen aller anderen Fraktionen widersprachen. Treutler: Nach Feststellung der Beschlussfähigkeit habe unmittelbar die Wahl der Landtagspräsidentin zu folgen. Da die Beschlussfähigkeit noch nicht festgestellt sei, könne es keine GO- oder TO-Änderung geben. Treutler verstrickte sich zunehmend in Widersprüche. Die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen verweigerten nun die von Treutler vorgeschlagene Unterbrechung. Unter Johlen bestätigt Treutler, dass seine Rede nun fertig sei. Bühl und die anderen parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen erinnerten erneut an den GO-Antrag.

Fünfter Akt: Ein paar Sekunden originärer Parlamentarismus

Treutler unterbrach, die Fraktionen forderten geschlossen und unter lautem Klopfen die Behandlung des Antrags. Bühl ging einen Schritt weiter und forderte jetzt den zweitältesten Abgeordneten auf, die Sitzung fortzuführen. Alle demokratischen Fraktionen klopften laut auf ihre Tische. In diesem Second hatte der Thüringer Landtag sein Recht zum originären Parlamentarismus ausgeübt. Mehrheit durch Akklamation, auch das reicht aus, wenn ein geordnetes Abstimmungsverfahren wegen autoritär-populistischer Blockade aus der Minderheit heraus nicht möglich ist. Treutler hatte jetzt die Sitzungsleitung nicht mehr inne. Braga und Treutler berieten, Bühl bekräftigte die Forderung und BSW-Fraktionsvorsitzende Katja Wolf schob zur Begründung das Selbstorganisationsrecht des Parlaments hinterher. Doch Treutler und Braga saßen die Stille aus. Nach langen Sekunden der Schritt zurück: Die Fraktionen forderten, dass Treutler die Sitzung fortsetze.

Sechster Akt: Braga diktiert die Optionen

Treutler klingelte und setzte zur Ernennung vorläufiger Schriftführer an. Wieder übernahmen die Parlamentarischen Geschäftsführerinnen, forderten zur Abstimmung über den Antrag auf und fielen dem unbeirrbaren Treutler nun offen ins Wort. Mitteldorf berief sich auf die Mehrheit des Landtags und ihr Selbstorganisationsrecht. Zumindest gestand Treutler nun zu, dass jede Fraktion ihre Rechtsauffassung vortrage. Unisono prangerten die Parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen das Gebären Treutlers an: „Farce“, „demokratieverächtlich“, „rechtswidrig“, „Verstoß gegen die freie Ausübung des Mandats“. Bis auf Braga. Er übernahm als letzter der fünf nun selbst das Skript, das er selbst vermutlich auch vorher schon Treutler geschrieben hatte, und zeigte zwei Optionen auf: eine politische Lösung, oder der Alterspräsident schließe sich einer der vorgetragenen Rechtsauffassungen an. Die Fraktionen, die mit dem Alterspräsidenten nicht übereinstimmen, könnten dagegen ja Rechtsschutz beantragen. Eine dritte Choice nannte er jedoch nicht: Auch jetzt noch hätte sich das Parlament auf sein Selbstorganisationsrecht berufen können. Per Akklamation hätte es Treutler absetzen oder schlichtweg über den GO-Antrag entscheiden können. Dann wäre es die AfD, die unter Zugzwang gewesen wäre.

Treutler stimmte – keine Überraschung – Braga zu. Bühl erhielt zum ersten Mal das Wort, schritt zum Redepult und kündigte unter Berufung auf die „Pflicht, die Demokratie zu verteidigen“ und die Verfassungsbrüche Treutlers an, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Ein letzter kurzer Second der Spannung, ob Treutler wirklich die Sitzung unterbrechen und nicht einfach fortsetzen würde. Treutler unterbrach bis Samstag 9.30 Uhr.

Ausblick: Was ist der nächste Akt?

Die Fraktion der CDU hat nun beim Thüringer Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um den Alterspräsidenten zu einem verfassungs- und geschäftsordnungsmäßigen Verhalten zu verpflichten. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof könnte den Alterspräsidenten dazu verpflichten, die Beschlussfähigkeit festzustellen und dann der Tagesordnung gemäß der form- und fristgerechten Neufassung der Einladung zu folgen und die Geschäftsordnungsänderung aufzurufen, vor allem aber: den Mehrheitswillen des Parlaments zu achten.

Nach den gestrigen Ereignissen ist es nicht ausgeschlossen, dass der Alterspräsident sich weigert, einer solchen Entscheidung des Gerichts Folge zu leisten. Vielleicht wird es ihm auch zu viel und er erscheint gar nicht. Dann würde das zweitälteste Mitglied Alterspräsident, ebenfalls ein AfD-Abgeordneter, sodass sich nicht viel ändern dürfte. Abmachungen oder Zusagen Bragas oder der AfD-Fraktion scheinen zu keinem Zeitpunkt glaubhaft, wie selbst die kleine Kompromissrunde der parlamentarischen Geschäftsführer und -führerinnen gezeigt hat. Und auch an der Delegitimierung des Verfassungsgerichtshof wird bereits gearbeitet. Das wäre ein nächster Tabubruch. Was dann?

Drei Möglichkeiten wären rechtlich denkbar, nur eine erscheint politisch sinnvoll. Zunächst könnte § 30 ThürVerfGHG Bedeutung erlangen, wonach die Vollstreckung verfassungsgerichtlicher Entscheidung in den Händen der Landesregierung liegt, die in Thüringen momentan noch geschäftsführend im Amt ist. Es erscheint mindestens politisch fragwürdig, ob sie im Falle eines sich weigernden Alterspräsidenten – notfalls mit Polizeigewalt – im Parlament einschreiten sollte. Das Gericht könnte aber auch die Vollstreckung durch die Landtagsdirektion anordnen. So oder so stellt sich die Frage, wie ein solches Einschreiten praktisch aussehen würde. Vermutlich würden damit genau die Bilder produziert, die die AfD gerne hätte, um ihre Model der Ereignisse zu untermauern. Grundsätzlich gilt: Je präziser das Gericht die Vollstreckung anordnet, desto besser.

Des Weiteren könnte die Landtagsdirektion auch das Hausrecht im Landtag ausüben. Nach § 124 Abs. 2 ThürGOLT ist der Landtagsdirektor die ständige Vertretung der Landtagspräsidentin in der Verwaltung. Ist die nicht im Amt und der Alterspräsident nicht gewillt, verfassungsgemäß zu handeln, könnte man argumentieren, dass sich aus dieser Vertretungsposition eine Artwork Notkompetenz des Landtagdirektors ergibt. Auch diese Choice ist aber juristisch wacklig und politisch fragwürdig.

Bleibt noch die Parlamentsmehrheit selbst. Weigert sich der Alterspräsident, die Entscheidung des Verfassungsgerichtshof umzusetzen und handelt er somit offenkundig verfassungswidrig, steht es der Parlamentsmehrheit frei, ihn abzusetzen und einen eigenen Sitzungsleiter zu wählen. Dies ergibt sich eindeutig aus dem verfassungsrechtlich verbrieften Selbstorganisationsrecht des Parlamentes (Artwork. 48 Abs. 1, Artwork. 57 Abs. 5 ThürVerf) und ist somit nicht nur rechtlich, sondern wohl auch politisch die sinnvollste Variante. Wie dies praktisch genau abläuft, ist jedoch ebenso unklar. Auch im Rahmen dieses Prozesses könnte es zu Tumulten kommen.

Ebenso wenig ist ausgeschlossen, dass die AfD wieder eine neue Obstruktionsstrategie aus dem Hut zaubert, die nicht von der Anordnung des Gerichts erfasst wäre. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof könnte bzw. müsste erneut angerufen werden. Das ist grundsätzlich möglich, würde die Sitzung aber weiter verzögern und damit die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes und seiner Gremien weiter verhindern.

Eine weitere Frage, die das Gericht beschäftigen könnte, betrifft die des Thüringer Geschäftsordnungsgesetzes. Fabian Michl hatte Anfang der Woche argumentiert, dass das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz den Diskontinuitätsgrundsatz nicht überlisten könne, wenn es die Fortgeltung der Geschäftsordnung anordnet. Dementsprechend müsste sich der Thüringer Landtag nach Eröffnung und vor allen weiteren Schritten eine neue Geschäftsordnung geben, wie es auch in anderen Landtagen und dem Bundestag üblich ist. Alle Thüringer Fraktionen waren gestern davon ausgegangen, dass die Geschäftsordnung gemäß ThürGOG anwendbar ist. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof könnte die Verfassungswidrigkeit des ThürGOG feststellen und dem Thüringer Landtag seine Geschäftsordnungsautonomie zurückgeben.

Wozu das ganze Theater?

Die AfD hat hier erreicht, was sie wollte: Sie hat die konstituierende Sitzung in eine Bühne verwandelt, auf „der sie ein Stück aufführen konnte, das charakteristisch für die autoritär-populistische Strategie ist“. Sie behauptet erst, durch den Volkswillen zum Herrschen legitimiert worden zu sein, obwohl sie noch in der Minderheit ist. Sie missbraucht dann auf verfassungswidrige Weise das Amt des Alterspräsidenten, um ihren vermeintlichen Herrschaftsanspruch gegen die Parlamentsmehrheit durchzusetzen. Zur Legitimation dient ihr ein dünner Rechtmäßigkeitsanstrich, auch wenn es nicht mehr ist als das (vermeintliche) Vorbringen eines juristischen Arguments. Folgen die demokratischen Parteien dieser rechtlichen Einschätzung nicht und protestieren dagegen, liefert dies den Anhängern der autoritär-populistischen Strategie die Evidenz, dass sie Opfer der „Kartell- oder Altparteien“ seien. Das Recht legt sie so aus, wie es ihr passt: An der einen Stelle werden die bescheidenen Rechte des Alterspräsidenten betont, auf der anderen Seite maßt er sich die Erteilung von Ordnungsrufen und die Entmündigung der gewählten Abgeordneten an („Bitte stellen Sie Ihm das Mikrofon ab!“).

Und doch ist der Eindruck entstanden, dass sich die AfD hier gestern verhoben hat. Sie hat teilweise evident rechts- und verfassungswidrig gehandelt. Sie hat Vereinbarungen und Absprachen getroffen und sie im nächsten Second gebrochen. Ihr Alterspräsident konnte die Sitzung weder kompetent noch würdevoll leiten. Spätestens nach gestern dürfte vielen dämmern, dass die AfD die Institutionen der parlamentarischen Demokratie unverhohlen missachtet, und das mit einer immer neuen Dreistigkeit. Die Debatte um ein Verbotsverfahren dürfte in eine neue Section treten.

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